Augen Auf
— Farben der Selbstverteidigung

Effektive Selbstverteidigung und Aufmerksamkeit

Die philippinische Kampfkunst Armadong Kali bietet effektive Techniken und Verhaltensweisen zur Notwehr, die gut in unsere westliche Lebenssituation passen. Ein zentraler Aspekt dieser Kunst ist Aufmerksamkeit – die ständige Wahrnehmung der Umgebung und die schnelle Reaktion auf Bedrohungen.

Aufmerksamkeit ist für die Kampfkunst Kali deshalb so wichtig, weil sich die philippinische Verteidigungskunst in einem Umfeld entwickelt hat, in dem Messer und andere Waffen stets präsent waren. Bei einem Angriff oder Streit konnte der Gegner jederzeit eine Waffe ziehen. Derartige Angriffe mit Messern oder ähnlichen Waffen sind tückisch und äußerst gefährlich. Sie erfordern besondere Aufmerksamkeit und ein angepasstes Verhalten vor und während des Kampfes. Die Kampf- und Verteidigungskunst Kali hat sich über Generationen an diese Bedingungen angepasst. Sie wurde nie versportlicht oder ritualisiert, sondern diente immer nur dem Schutz der Trainierenden und ihrer Familien.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Aufmerksamkeit in der Selbstverteidigung und wie diese in der Verteidigungskunst Kali früher und heute trainiert wird.

Aufmerksamkeit ist tief in der Kultur verwurzelt

Die ständige Aufmerksamkeit, das Beachten und Achten der Menschen um einen herum, ist tief in der philippinischen Kultur verwurzelt: Malasakit, die philippinische Lebensweise der Aufmerksamkeit und Fürsorge (concern & care), lässt die Menschen aufeinander achten.

Der Grundgedanke von Malasakit ist, sich selbst in der Verbindung mit anderen Menschen zu sehen – die Mitmenschen wahrzunehmen, wertzuschätzen und ihnen nach Möglichkeit zu helfen. “Kein Mensch ist eine Insel” (No man is an island), pflegte mein Kali-Lehrer Grand Tuhon Leo T. Gaje zu sagen.

Für die Selbstverteidigung ist dies wichtig, denn wenn wir in der Folge von Malasakit auf unsere Mitmenschen achten, dann bemerken wir auch Menschen mit bösen Absichten frühzeitig und können uns besser auf gefährliche Situationen vorbereiten oder diese ganz vermeiden.

Da Malasakit auf den Philippinen (normalerweise) als Teil des Lebensstils vorausgesetzt werden kann, konzentriert sich das Training der Kampfkunst typischerweise auf die Entwicklung körperlicher Verteidigungstechniken. Für westliche Adepten der philippinischen Kampfkünste muss die Culture of Concern and Care mit dem daraus resultierenden Nutzen für die Selbstverteidigung nachgereicht und näher erläutert werden.

Die Entwicklung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber unseren Mitmenschen ist in Kombination mit der Entwicklung von Selbstverteidigungsfähigkeiten und der Erhaltung der Gesundheit das Hauptanliegen der Selbstverteidigungskunst Armadong Kali.

Warum Aufmerksamkeit in Stufen?

Wie fast alles in der Natur nehmen Menschen Aufmerksamkeit oder auch die Eskalation eines Konfliktes als Kontinuum mit fließenden Übergängen wahr. Mein Kali-Lehrer spricht in diesem Zusammenhang von einem Kontinuum der Aufmerksamkeit oder von einem Kontinuum der Gewalt.

Ein Kontinuum mit fließenden Übergängen hat allerdings einen Nachteil: Menschen mit wenig Erfahrung fällt es manchmal schwer, sich in einem Kontinuum ohne definierte Grenzen zurechtzufinden: Ist diese Farbe noch gelb oder schon rot? Ist das noch eine unerwünschte Belästigung oder schon ein Angriff? In einem Kontinuum ohne Abstufungen besteht die Gefahr des Verlierens im Detail und damit auch der Verlust des Überblicks über die Gesamtsituation. Täter machen sich diese Verwirrung zunutze, indem sie potenzielle Opfer durch graduelle Grenzüberschreitungen austesten, um dann bei einer verwirrten Person leichtes Spiel zu haben.

Gerade für Anfänger ist es sehr hilfreich, die Komplexität der Situationswahrnehmung zu vereinfachen. Dies kann durch ein Farbschema erreicht werden, das von dem amerikanischen Schusswaffenexperten Jeff Cooper propagiert wird. Dieses „Cooper-Farbschema“ ist ein mentaler Rahmen, der verschiedene Stufen des Bewusstseins und der Wachsamkeit beschreibt. Es hilft, das Bewusstsein für die eigene Umgebung und mögliche Bedrohungen zu schärfen.

Das Farbschema besteht aus vier Hauptstufen:

  1. Weiß (White): unaufmerksam

  2. Gelb (Yellow): allgemein aufmerksam

  3. Orange (Orange): erhöhte Wachsamkeit.

  4. Rot (Red): entschlossenes Handeln

Lagebeurteilung, Aufmerksamkeit und Sicherungspositionen

Im Armadong Kali verwenden wir das Farbschema adaptiert an die Kali-Technik und Denkweise. Die Farbstufen dienen uns zur Orientierung in der Situation und als Handlungsempfehlung (Grobeinstellung) bezüglich Sicherungspositionen und zielgerichtetem Handeln. Mein Kali-Lehrer spricht in diesem Zusammenhang von Counter On Motion Before Attack Time, oder kurz: C.O.M.B.A.T. Bei der Umsetzung von C.O.M.B.A.T. geht es darum, vorbereitet zu sein, bevor der Gegner seine Angriffsabsicht realisiert.

Die Bedeutung der Stufen des Farbschemas:

  • Weiß (White) – Unaufmerksam

    In der weißen Stufe befinden sich Menschen in einem Zustand völliger Unaufmerksamkeit. Von anderen würden sie als geistig abwesend beschrieben werden. Typische Situationen sind Entspannungsphasen zu Hause oder Momente der Ablenkung, z.B. durch intensives Lesen oder Musikhören. In dieser Stufe überraschen Bedrohungen völlig unvorbereitet.

  • Gelb (Yellow) – allgemeine Aufmerksamkeit

    Die gelbe Stufe ist der Idealzustand für den Alltag. Wir sind entspannt, aber aufmerksam und nehmen unsere Umgebung bewusst wahr. Im Sinne von Malasakit (Concern & Care) sind wir interessiert an unseren Mitmenschen und unserer Umwelt. Unser Interesse kommt aus der inneren Überzeugung, dass die Welt viel Schönes und Sehenswertes zu bieten hat, das wir uns nicht entgehen lassen wollen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, jemandem zu helfen und damit die Welt ein wenig besser zu machen, wollen wir diese Chance nicht verpassen. Während wir nach ihr Ausschau halten, bemerken wir ungewöhnliche Aktivitäten oder Personen, ohne paranoid zu werden.

  • Orange (Orange) – erhöhte Wachsamkeit

    In der Stufe Orange wurde etwas Ungewöhnliches entdeckt, das auf eine Gefahr hinweist. Zum Beispiel unbekannte Kratzer an der Haustür oder eine Person, die sich verdächtig verhält. Wir sind wachsamer und bereiten uns darauf vor, im Falle einer Eskalation zu handeln. Das Team bzw. die Begleitpersonen werden informiert, die eigene Position wird angepasst und Vorbereitungen getroffen, mögliche Entwicklungen der Situation werden in Gedanken durchgespielt, sinnvolle Lösungen werden ins Gedächtnis gerufen und konkrete Auslöser festgelegt: »Wenn das und das passiert, dann mache ich ...«.

  • Rot (Red) – entschlossen Handeln

    Stufe Rot ist die Phase, in der sofortige Maßnahmen erforderlich sind. Das Vorliegen einer akuten Gefahr wurde bestätigt. Nun gilt es, entschlossen zu handeln und die geplanten Maßnahmen konsequent umzusetzen. Hier müssen die im Armadong Kali trainierten Selbstverteidigungstechniken ohne Zeitverlust angewendet werden. Es geht darum, den Gegner so schnell wie möglich zu überwältigen oder Hilfe zu holen. In der roten Phase wird gehandelt, nicht nachgedacht.

Selbstverteidigung trainieren: Erkennen, verstehen und handeln

Durch Training wollen wir verhindern, dass Menschen so überrascht werden, dass sie orientierungslos und planlos werden. Die Schärfung der situativen Aufmerksamkeit ist der erste Schritt: Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Warnsignale überhaupt wahrgenommen werden.

Der zweite Schritt besteht darin, die Bedeutung der Warnsignale zu verstehen. Voraussetzung dafür ist Wissen, um die Bedeutung der Wahrnehmung einordnen zu können. Dazu gehört auch die mentale Stärke, die wahrgenommenen Signale und ihre Bedeutung nicht zu leugnen.

Für den dritten Schritt hat das Training die Aufgabe, geeignete Lösungen bereitzustellen, so dass Lösungsmöglichkeiten, die sich in der Situation anbieten, auch erkannt werden können.

Schließlich muss das Training eine geeignete Erfahrungsbasis bereitstellen, um eine gute Gelegenheit zur Lösung schnell genug zu erkennen und durch entschlossenes Handeln zu nutzen.

Von der Tradition zur Moderne

Im Armadong Kali führen wir die traditionellen Trainingsmethoden in die moderne Zeit.

Traditionell lebten Kali-Lehrer und Schüler in einer Familie oder verbrachten auch außerhalb des Trainings viel Zeit miteinander. Es gab reichlich Gelegenheit, Lebenserfahrung (für Schritt 1 und 2) weiterzugeben, z.B. beim entspannten Zusammensein zwischen den Trainingseinheiten. Ich selbst wohnte während meiner Trainingsaufenthalte auf den Philippinen immer wieder monatelang im Haus meines Trainers und hatte ihn auch regelmäßig mehrere Wochen im Jahr als Gast in meinem Haus. Dabei stellte sich heraus, dass die Gespräche bei den gemeinsamen Mahlzeiten ein ebenso wichtiger Teil des Trainings waren wie das Training selbst.

In der heutigen Zeit ist eine solch enge Verbindung nicht mehr die Regel. Dafür bietet uns die moderne Technik andere Möglichkeiten, Wissen und Erfahrungen zu vermitteln. Im Armadong Kali nutzen wir diese neuen Möglichkeiten und integrieren sie in die Ausbildung.

Aufmerksam und handlungsfähig mit Armadong Kali

Mit Armadong Kali verbinden wir die philippinische Kultur der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit mit den praxiserprobten Verteidigungstechniken der philippinischen Kampfkunst. Weil das Leben lebenswert und schön ist, gehen wir achtsam und interessiert durchs Leben. Wir interessieren uns für unsere Umgebung und unsere Mitmenschen. Wir nehmen wahr und verstehen. Wir fühlen uns gut, wenn wir anderen helfen können. Die Erfahrungen, die wir im Armadong Kali Training machen, geben uns Mut und Kraft, unser Leben aktiv zu gestalten.

Kalipayan = Lebensfreude!

Im Mai 2024
Tuhon Uli Weidle

 


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