Blick in die Augen: Selbstverteidigung beginnt im Kopf

Augen auf – Farben der Selbstverteidigung

Effektive Selbstverteidigung beginnt mit Aufmerksamkeit

Mai 2024 · von Tuhon Uli Weidle

Die philippinische Kampfkunst Armadong Kali vermittelt effektive Techniken und Verhaltensweisen zur Notwehr – angepasst an unsere westliche Lebensrealität. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Aufmerksamkeit: das bewusste Wahrnehmen der Umgebung und die Fähigkeit, auf Bedrohungen schnell und angemessen zu reagieren.

Kali wurde nie versportlicht oder ritualisiert, sondern diente stets dem Schutz der Trainierenden und ihrer Angehörigen. Es entstand in einem Umfeld, in dem Messer oder andere Waffen jederzeit präsent sein konnten – und Gefahr oft plötzlich eskalierte. Plötzliche Nahdistanzangriffe mit Klingenwaffen sind besonders tückisch und gefährlich. Sie zu überstehen erfordert nicht nur technisches Können, sondern vor allem Wachsamkeit und vorausschauendes Verhalten – bereits vor dem eigentlichen Angriff. Kali wurde über Generationen hinweg für diese Realität geschärft – und gerade weil auch heute ein Moment der Unachtsamkeit alles verändern kann, ist das Wissen heute genauso wertvoll wie damals.

Aufmerksamkeit als kulturelle Haltung

Die Haltung der Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen ist tief in der philippinischen Kultur verwurzelt. Filipinos verstehen sich nicht als isolierte Individuen, sondern stets in Verbindung mit ihren Mitmenschen. "Kein Mensch ist eine Insel", pflegt mein Kali-Lehrer Grand Tuhon Leo T. Gaje zu sagen.

Mitmenschen wahrzunehmen, wertzuschätzen und ihnen nach Möglichkeit zu helfen – dafür steht das philippinische Konzept Malasakit. Es lässt sich mit „Fürsorge und Mitgefühl“ übersetzen und beschreibt eine gelebte Verantwortung füreinander: Menschen sehen einander, kümmern sich umeinander, bleiben aufmerksam.

„No man is an island“ – Kein Mensch ist eine Insel.

Gerade in unserer westlichen Welt, in der viele anonym nebeneinanderher leben, kann diese Haltung den Unterschied machen: Wer mit offenem Blick durch den Alltag geht, Körpersprache und Stimmungen wahrnimmt, erkennt oft früh, wenn eine Situation kippt – und kann rechtzeitig reagieren.

Während Malasakit auf den Philippinen meist selbstverständlich gelebt wird, braucht es bei uns im Kampfkunsttraining eine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Haltung. Die von Grand Tuhon Gaje beschriebene „Culture of Concern and Care“ ist kein bloßes Ideal – sie erweitert unser Verständnis von Selbstverteidigung und macht uns handlungsfähiger im Alltag.

Die Entwicklung von Aufmerksamkeit und Fürsorge gegenüber unseren Mitmenschen – verbunden mit effektiver Selbstverteidigung und dem Erhalt der Gesundheit – bildet das Herzstück von Armadong Kali.

Warum Aufmerksamkeit in Stufen?

Wie fast alles in der Natur erleben wir Menschen Aufmerksamkeit – oder auch die Eskalation eines Konflikts – als fließende Übergänge, als ein Kontinuum. Mein Kali-Lehrer spricht in diesem Zusammenhang vom „Kontinuum der Aufmerksamkeit“ oder vom „Kontinuum der Gewalt“.

Diese Betrachtungsweise ist realistisch – aber sie hat eine Schwäche: Ohne klare Abgrenzungen fällt es vor allem Anfängern schwer, eine Situation richtig einzuschätzen. Ist diese Stimmung noch entspannt – oder kippt sie bereits? Ist das Verhalten eines Fremden noch unhöflich – oder schon bedrohlich?

In solchen Grauzonen verlieren Menschen mit wenig Erfahrung schnell den Überblick. Genau das nutzen Täter aus: Mit einer Abfolge zunächst kleiner, dann immer deutlicherer Grenzüberschreitungen testen sie, wie weit sie gehen können – bis sie auf ein Opfer treffen, das überfordert und unfähig zu gezielter Handlung geworden ist. Dann haben sie leichtes Spiel.

Hier hilft ein klar strukturiertes Raster, das komplexe Wahrnehmung in eindeutig benennbare Kategorien übersetzt.

Schematische Darstellung von Aufmerksamkeit als Kontinuum und Farbstufen
Vereinfachung komplexer Wahrnehmung: Der Verlauf von Aufmerksamkeit – hier als Sonnenaufgang – wird durch das Farbschema in klare Kategorien übersetzt. Links die Sichtweise eines Experten, rechts die eines Anfängers.
Schematische Darstellung von Aufmerksamkeit als Kontinuum und Farbstufen
Vereinfachung komplexer Wahrnehmung: Der Verlauf von Aufmerksamkeit – hier als Sonnenaufgang – wird durch das Farbschema in klare Kategorien übersetzt. Links die Sichtweise eines Experten, rechts die eines Anfängers.

Das Bild zeigt, wie ein natürlicher Verlauf – etwa der eines Sonnenaufgangs – mithilfe eines groben Rasters in Gelb-, Orange- und Rottöne unterteilt wird. Dabei geht zwar Detail verloren – doch es entstehen klare Schwellen, die Orientierung bieten.

Ein solches Raster ist das Cooper-Farbschema, entwickelt vom amerikanischen Schusswaffenexperten Jeff Cooper. Es beschreibt vier mentale Zustände – von Unaufmerksamkeit bis zum entschlossenen Handeln – und diente ursprünglich als Entscheidungshilfe für bewaffnete Einsatzkräfte.

  • Weiß:  unaufmerksam
  • Gelb:  allgemein aufmerksam
  • Orange:  erhöhte Wachsamkeit
  • Rot:  entschlossenes Handeln

Lagebeurteilung, Aufmerksamkeit und Sicherungspositionen

Im Armadong Kali nutzen wir das Farbschema angepasst an unsere Denkweise und Techniken. Die Farbstufen helfen uns, eine Situation richtig einzuschätzen – und dienen zugleich als grobe Handlungsempfehlung: für unsere Sicherungshaltungen, die Positionierung im Raum, und die innere Handlungsbereitschaft.

Mein Lehrer spricht in diesem Zusammenhang von Counter On Motion Before Attack Time, kurz: C.O.M.B.A.T.. Der Grundgedanke: Nicht erst zu reagieren, wenn der Angriff beginnt – sondern vorbereitet zu sein, bevor der Gegner seine Absicht überhaupt umsetzen kann.

Die Bedeutung der Farbstufen:

Wie wir von der Wahrnehmung zur Handlung kommen
Wie wir von der Wahrnehmung zur Handlung kommen.
Der Ablauf vom Erkennen zum Handeln
Wie wir von der Wahrnehmung zur Handlung kommen.

Selbstverteidigung lernen heißt: erkennen und handeln trainieren

Ziel unseres Trainings ist es, Gefahrensituationen nicht unvorbereitet zu begegnen. Wer von plötzlichen Entwicklungen überrascht wird, hat kaum eine Chance, planvoll und zielgerichtet zu handeln.

Die vier Schritte von der Aufmerksamkeit über das Verstehen bis zum entschlossenen Handeln sind in dem Bild dargestellt. Hier nochmal im Detail.

  1. Aufmerksamkeit schärfen: Nur wer wachsam ist, kann mögliche Warnsignale überhaupt wahrnehmen. Ohne Aufmerksamkeit nützt alles Können nichts – wir übersehen die Hinweise und verpassen den richtigen Moment zum Handeln.

  2. Gefahr erkennen und verstehen: Das Verstehen von Warnsignalen erfordert Wissen – über Körpersprache, typische Eskalationsmuster oder Verhalten vor einem Angriff. Und es braucht mentale Stärke: Wer Anzeichen von Gefahr erkennt, muss bereit sein, sie auch ernst zu nehmen – statt sie zu verdrängen oder zu bagatellisieren.

  3. Handlungsoptionen erkennen: Durch Training entwickeln wir ein Repertoire an bewährten Reaktionen. So erkennen wir im Ernstfall schneller, welche Mittel zur Verfügung stehen und welche Option sinnvoll ist.

  4. Entschlossen handeln: Erkenntnis allein reicht nicht – es braucht die Fähigkeit zur Umsetzung. Das Training schafft die nötige Erfahrungsbasis, um günstige Gelegenheiten zu erkennen – und im entscheidenden Moment konsequent zu handeln.

Erfahrungsbasiertes Training – von der Tradition in die Moderne

Früher lebten Lehrer und Schüler eng zusammen – sie lernten im Training und im Alltag voneinander. Ich selbst wohnte während meiner Aufenthalte auf den Philippinen monatelang im Haus meines Lehrers – und bei seinem Gegenbesuch auch er bei mir. Dabei stellte sich heraus, dass die Gespräche bei den gemeinsamen Mahlzeiten ein ebenso wichtiger Teil des Trainings waren wie das Training selbst.

Heute nutzen wir ergänzend Workshops, moderne Medien z.Bsp zur Analyse realer Angriffe und dem Austausch konkreter Erfahrungen. Im Armadong Kali verbinden wir traditionelle Nähe mit modernen Mitteln – für eine starke und persönliche Entwicklung.

Wachsam leben – mutig handeln

Armadong Kali vereint die Haltung achtsamer Aufmerksamkeit mit effektiven Verteidigungstechniken. Wir interessieren uns für unsere Umgebung, begegnen ihr mit Offenheit und Respekt – und bleiben gleichzeitig handlungsbereit.

Das, was wir im Training lernen, schützt nicht nur in der Not – es stärkt uns jeden Tag: für das Leben, das wir bewusst und mutig gestalten.

Kalipayan = Lebensfreude: Mit wachem Geist und offenem Herzen durch den Alltag.

Mai 2024
Tuhon Uli Weidle