Ein Blick zurück auf unsere Anfänge:

Titelgeschichte: Heimat+Welt Magazin, Juli 1995

Die Brüder Achim und Uli Weidle führten eine Gemeinschaft aus erfahrenen Schwarzgurten und engagierten Kampfsportlern zusammen – gemeinsam legten sie den Grundstein unserer Kali-Gruppe.

Bereits wenige Jahre später fand diese junge Gruppe große Beachtung:

Vor 30 Jahren widmete der GEA uns eine dreiseitige Titelgeschichte in der Wochenzeitung Heimat+Welt.

Viele von damals sind bis heute dabei – nach wie vor verbunden durch dieselben Werte wie einst. Hier könnt ihr den Artikel von damals nachlesen: ein Zeugnis unserer Wurzeln und bis heute lebendiger Erinnerungen.

Es folgen Scans und Transkript des Artikels aus der Heimat+Welt, 22. Juli 1995

Scans:

Heimat & Welt, 22. Juli 1995 – Titel: Eine Selbstverteidigung für Pazifisten
Heimat+Welt – Ausgabe 30, Samstag 22. Juli 1995
Artikel – Seite 2: Zieh der Schlange den Giftzahn Artikel – Seite 3
Artikel-Doppelseite: „Zieh der Schlange den Giftzahn“

Transkript

Titelseite:

Eine Selbstverteidigung für Pazifisten

Der martialische Eindruck täuscht: Pekiti Tirsia Kali ist eine Selbstverteidigungskunst für Pazifisten.

Seite 2

Titel: Zieh der Schlange den Giftzahn

Bildunterschrift: Blumig, weich, fließend – und wenn’s sein muss knallhart. Das ist Pekiti Tirsia Kali, eine fernöstliche Verteidigungstechnik. Sie ist Sport, Kunst und Philosophie zugleich. Eine von zwei Schulen in der Bundesrepublik ist in Reutlingen.

Pekiti Tirsia Kali: Wann geht mir dieses philippinisch-indonesische Wortungeheuer endlich in den Kopf? … Auf dem Weg zur Sporthalle sage ich den Bandwurm noch ein paar Mal vor mich hin. Da steht Uli Weidle vor mir: Er ist Tirsia-Kali-Trainer in Reutlingen, neben Hildesheim der einzige Ort in der Bundesrepublik, an dem dieser Sport erlernt werden kann.

Der 29-Jährige reicht mir die Hand und schaut fest in meine Augen. Sein aufrechter Rücken könnte allen gekrümmten Kreuzen zum Vorbild dienen. Der großgewachsene, schlanke Mann gibt sich bestimmt, aber freundlich.

Ich gehe mit dem Kämpfer in die Halle. Was also ist nun Pekiti Tirsia Kali? Weidles Rat: »Schauen Sie sich erst mal eine Trainingsstunde an«. Immerhin soviel-macht er mir klar: Es geht nicht nur um Sport, sondern auch um eine Art Philosophie. … Pekiti Tirsia Kali sei eigentlich gar kein Kampfsport, sondern eine philippinisch- indonesische Selbstverteidigungs-Kunst. Ich habe es also mit Sportlern, Künstlern und Philosophen zu tun: drei in einem.

Seelenruhig versucht der Pekiti-Mann mir einen ersten Zugang zu geben. »Wir versuchen in unserem System Aggression ganzheitlich aufzulösen«, denn: »Ein Faustschlag läßt sich nicht wegdiskutieren«. … Wir wenden uns dem Training zu.

Zehn Leute im Alter zwischen 20 und 40 Jahren sind an diesem Freitagabend gekommen - acht Männer und zwei Frauen. Sie stehen nun im Kreis. Jeder hat einen 80 Zentimeter langen Rattanstock in jeder Hand. Sie ersetzen im Training Schwert und Klinge. Rattan ist eine Grasart. Der Vorteil Die Stöcke brechen und splittern nicht wie Holz, sondern fasern aus, wenn zu sehr gedroschen wird. Schaumstoffschläger seien nicht geeignet, sagt Achim Weidle. Er ist der ältere Bruder von Uli, etwas gewichtiger, aber ebenso kampfsportbegeistert. »Es ist wichtig, daß man spürt, wenn man einen Fehler gemacht hat, damit man den Respekt vor dem Gegner nicht verliert«.

Training in Reutlingen

Am Anfang der Stunde steht ein Ritual: Die Teilnehmer führen das eine Ende des bambusartigen Stockes zu ihrem Herzen, so daß das andere in die Kreismitte zeigt. Sie konzentrieren sich kurz, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Uli Weidle leitet das Training und spricht: »Wir erinnern uns: wir stehen im Kreis, weil wir alle gleich sind und voneinander lernen«. Während sich die Sportler aufwärmen, klärt mich Achim Weidle über die Hintergründe des Pekiti Tirsia Kali auf. Pekiti Tirsia Kali ist eine Stilart des Kali Silat, der traditionellen Kampf- und Bewegungskunst auf den Philippinen und in Indonesien. Kali ist das philippinische Wort für Messer und Silat steht für Kampf- und Bewegungskunst. Hinter dem Begriff Pekiti Tirsia steht die Idee des Nahkampfes. Über Jahrhunderte wurde die Selbstverteidigungskunst und Überlebensstrategie der Ureinwohner in der Familie und in den Dörfern gepflegt, verfeinert und erfolgreich angewandt: Die ersten Spanier, die auf den Philippinen unter dem Weltumsegler Magellan landeten, wurden vernichtend geschlagen. Der damalige Stammeshäuptling Lapu Lapu ist bis heute ein Volksheld, weil er mit Kali die überlegen bewaffneten Eindringlinge besiegte.

Seite 3

Bildtext: Nur auf den ersten Blick ein Widerspruch: Oberstes Prinzip der Kali Silat-Kämpfer ist es, den Kampf zu vermeiden. Denn beim Kämpfen verlieren, wie bei jedem Streit, beide Kontrahenten - auch der vermeintlich Überlegene.

Mehr als Kriegskunst

Doch Kali ist weit mehr als eine Kriegskunst. Das zeigt sich auch beim Training der Reutlinger Gruppe. Die Rattanfechter in der Halle machen inzwischen einen Höllenlärm, denn 20 Schlagstöcke prasseln ständig aufeinander. Es brenzelt in der Hallenluft. Die feuergehärteten Stöcke verbreiten Lagerfeuergeruch.

Vier Stöcke, acht Gliedmaßen und rund 160 Kilogramm Masse pro Trainingspaar sind in Bewegung. »Die Beinarbeit ist das Wichtigste«, hatte Uli Weidle zu Beginn der Partnerübungen gesagt. Doch die Stockarbeit ist augen- und ohrenfälliger. Ob unten, rechts und links wirbeln die Stöcke durch die Luft und treffen immer haarscharf auf die des Gegners. Der Rhythmus wird schneller, die Schlagmuster verfließen - einiges Spiel von Energien.

Weidle unterbricht den Fluß und weist seine Leute an: Ein Partner droht mit dem Stock. Der andere geht ohne Waffe auf den Stockführenden zu. »Ihr müßt innerlich absolut ruhig sein«, rät Weidle. Gediegen geführte Handbewegungen unterstreichen seine Rede. »Beobachtet genau, was der andere macht, wartet den richtigen Zeitpunkt ab, tretet dann ein und stoßt zum Kern des Problems vor«.

Drei Dinge sind wichtig, ruft Weidle seinen Schülern in Erinnerung. Erstens: Schütze dich selbst. Zweitens: Neutralisiere die Gefahr. Drittens: Fließt der Angriff weiter, greife das Problem an der Wurzel. »Und immer in Bewegung bleiben«, fährt er fort. Wenn drei oder vier angreifen, müsse man diese »im Fluß neutralisieren«.

Nächste Übung: Nahkampf. Aufgabe ist es nun, den angreifenden Arm des Gegners zu »neutralisieren« oder sofort »zur Wurzel« vorzustoßen. Das bedeutet: der Angreifer wird kampfunfähig gemacht. »Es kann sein, daß ich zur Ursache des Problems vorstoßen muß«, erklärt Weidle. »Ich beseitige das Problem und verlasse es. Oder ich lasse dem Gegner ein Geschenk zurück«. Soll heißen: einen lahmen Arm.

Ohne Stöcke geht es weiter - realistisch wie auf der Straße. »Ein Angreifer sucht sich ein schwaches Opfer; Größe und Gewicht sprechen meist für ihn«, erklärt Weidle. Wie also reagieren? »Der Schwächere muß die Attacke angreifen, die vom Gegner ausgeht, nicht den Gegner selbst. Er muß der Schlange den Giftzahn ziehen«, so die philippinische Vorstellung. Ein »Giftzahn« kann das Messer oder die Faust des Gegners sein.

Weidle kommentiert: »Größe und Gewicht der Schlange spielen keine Rolle, wenn ich sie entzahne«. Denn es sei ihr Wille, der uns gefährde, nicht ihr Gewicht und nicht ihre Größe. Die Wurzel des Übels stecke also im Kopf. Die Schlange an sich sei ganz ungefährlich. Kurz: Es gehe darum, den Kampfeswillen des Angreifers zu brechen.

Auch sonst geht es mit Köpfchen zu bei Pekiti Tirsia Kali. In einem Handzettel schreibt Uli Weidle: »Die erste und wichtigste Waffe eines Kali Silat Kämpfers ist das Gehirn!« Denn im Unterschied zum Kampf-Sport gehe es in der Selbstverteidigungs-Kunst darum, eine Auseinandersetzung trickreich zu vermeiden. »Es ist auch möglich, mit dem Gegner zu reden«. Der Kampf diene letztlich zur Sicherung des Fluchtweges.

Kunst und Lebensfreude

In der Sporthalle erklingt jetzt brasilianische Capoeira-Musik. Die Gruppe hat ihre Stöcke weggelegt und bewegt sich im Dreiviertel- Takt. Der Tanz hängt eng mit Kali Silat zusammen: Während der spanischen Kolonialherrschaft war Kali Silat verboten gewesen. Die Philippinos erhielten es jedoch lebendig, indem sie die Schritt- und Bewegungsmuster in Tanz und Theater verbargen und unter den erfreuten Augen der Kolonialherren weiterübten.

Der Tanz treibt den Reutlinger Pekiti-Anhängern den Schweiß auf die Stirn. Doch alle lächeln dabei. Lockere Lebensfreude. »Das ist die Wurzel der philippinischen Selbstverteidigungskunst«, erzählt Uli Weidle. »Ich bejahe mein Leben und lerne, daß es wert ist, erhalten zu werden«. Die Folge: »Ich habe Respekt anderen Menschen gegenüber, die dasselbe empfinden«. Pessimisten und Lebensverdrossene vergäßen es, sich schlecht zu fühlen, wenn sie Pekiti Tirsia Kali trieben, meint er.

Das Tanzen geht weiter. Die Arme durchziehen den Raum in ausladenden‚ blumigen Bewegungen. Und auch die Beine sind immer in Bewegung. »Wenn man steht, ist man tot. Bewegung ist Leben.«, sagt Achim Weidle, mit dem ich mich am Rand der Hall unterhalte. »Bewegung bedeutet auch geistige Flexibilität«, sagt er. Der 35jährige ist für eine Bank im Außendienst tätig und hat viel mit Menschen zu tun. »Pekiti Tirsia Kali gibt mir im Berufsalltag sehr viel. Es hilft mir, mich immer wieder auf neue Situationen einzustellen und mich aufs Wesentliche zu konzentrieren«.

Auch sein Bruder Uli lebt den Geist des Kali Silat im Alltag. Nach dem Training kommt er auf die Prinzipien der Kampfkunst zu sprechen, die er auf sein Dasein überträgt. Prinzipien sind für Weidle »Dinge, die mir ermöglichen, unabhängig von Zufallsvarianten durchs Leben zu kommen«. Das erste ist, den Kampf zu vermeiden. Denn beim Kämpfen verlieren, wie bei jedem Streit, beide Kontrahenten - auch der vermeintlich Überlegene.

Ist ein Kampf jedoch unausweichlich, so gilt es, Schaden zu minimieren. Dazu ist Beweglichkeit gefordert. Die direkte Konfrontation auf der »Wirkungslinie« des Angreifers ist zu umgehen. Im Kampf wie im Leben sind realistische Ziele zu setzen (es genügt, der Schlange den Giftzahn zu ziehen). Weitere Inhalte: Genaue Wahrnehmung ist zu schulen: Welche Absicht verfolgt der andere in Wahrheit? Niemals wegschauen, sondern die Probleme offensiv angehen: Wer den Kopf in den Sand steckt, erkennt Gefahren nicht und kann böse Überraschungen erleben. Durch einen hohen Grad an Flexibilität soll man selbst möglichst unberechenbar sein. Das ist Pekiti Tirsia Kali.

Fred Schneider setzt sich zu uns auf die Bank. Er ist 34 Jahre alt, einen Kopf kleiner als Uli Weidle, hat 16 Jahre lang Karate getrieben und ist inzwischen ganz auf Pekiti Tirsia umgestiegen. Was hat den Schwarzgurt-Träger dazu bewogen? Er erzählt: Karate ist Wettkampfsport und hat sein urprüngliches System verloren. Es zählt nur noch der Leistungsgedanke«. Beim Kali Silat hingegen gebe es keine Graduierungen.

Auch Schneider hat seine Silat- Philosophie. Die Kampfart Kali Silat sei eine pazifistische Kunst. Er zitiert ein chinesisches Sprichwort: »Wer gut kämpfen kann, wird nicht zornig, und wer weiß, wie er seinen Gegner besiegen kann, kämpft nicht«. Wettkämpfe hat Schneider satt. »Ein Titel ist nur Schall und Rauch. Mit einem Stück Blech kann ich nichts anfangen«. Der Beste sei, wer das bestmögliche aus sich mache. »Wer ständig den Vergleich mit anderen sucht, wird hochnäsig oder frustriert«. Er erzählt, was Pekiti Tirsia Kali-Meister sagen: »Der wahre Meister ist der, der sich selbst gemeistert hat«.